
Die erste Erkältung
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Er hatte nie gewusst, dass es in ihm war. Hatte nie erkannt, dass die Kälte, die ihn geformt hatte, die Kälte, die ihn aus den Tiefen des Eises emporgetragen hatte, die Kälte, die ihm in jener verlassenen Spalte, wo der Mond geschwiegen und die Nordlichter sich zurückgezogen hatten, den Atem geschenkt hatte, nicht nur etwas war, das um ihn herum verweilte, nicht nur etwas, das ihn von außen geformt hatte, sondern etwas, das sich tief in seinen Knochen eingenistet hatte, das sich um seine Muskeln gewickelt hatte, das sich in seinem Herzen verankert hatte — eine schlafende Präsenz, ein stiller Anfang von etwas viel Größerem, etwas, das geduldig, unermüdlich gewartet hatte, bis der Moment käme, an dem er nicht mehr nur mit der Kraft seiner Füße gehen würde, sondern mit der Macht, die immer schon in ihm geschlummert hatte.
Die Stadt hatte ihn gesehen, die Mauern hatten seine Anwesenheit geflüstert, die Echos hatten seine Schritte erkannt, doch er selbst — er hatte noch nicht einmal begonnen zu verstehen, wer er wirklich war, noch das Gewicht dessen, was an seiner Seite ging.
Seine Schritte waren weit, sein Gang war fest, seine Haltung ruhig, wie immer, doch als er an diesem Morgen durch die lange, graue Straße ging, flankiert von Backsteinmauern, verrosteten Eisenshuttern und Laternen, die unter ihrem eigenen Gewicht ächzten, spürte er, wie sich etwas Unmerkliches in der Luft veränderte — als ob die Wärme nicht einfach verschwand, weil die Sonne sich zurückgezogen hatte, sondern weil er es war, der die Sonne vertrieb, weil er es war, der die Wärme aus dem Raum um ihn herum sog, mit jedem Schritt die Temperatur senkte — nicht aus freiem Willen, nicht aus bewusster Absicht, sondern durch etwas, das viel tiefer lag, etwas, das er noch nicht begreifen konnte.
Und er bemerkte es nicht sofort, erst als er seine Hand am eisernen Zaun neben ihm entlanggleiten ließ, spürte er, wie das Metall unter seinen Fingerspitzen erstarrte, spürte er, wie der Morgentau, der sich dort niedergeschlagen hatte, plötzlich in feine, glitzernde Kristalle zerbrach — und es war in diesem stillen Moment, dass er begriff, dass seine Berührung sich verändert hatte — nicht kalt wie ein Wintermorgen, nicht kalt wie der flüchtige Hauch von Wind oder Regen, sondern kalt wie uraltes Eis, das seit Jahrhunderten tief unter der Oberfläche der Welt eingeschlossen lag, kalt wie die Leere, aus der er hervorgekrochen war, kalt wie die tiefe Stille, in der er geboren worden war.
Er zog seine Hand zurück, betrachtete sie, als würde er einen Gegenstand studieren, der nicht ganz zu ihm gehörte, als wäre er der Besitzer von etwas geworden, das er sich nie zuvor zu berühren gewagt hatte.
Sein Atem formte Wolken in der Luft, doch die Luft selbst fühlte sich nicht kalt an — die Kälte war nicht außerhalb von ihm.
Die Kälte kam aus ihm.
Er ging weiter, seine Finger zitterten leicht, sein Schritt blieb unbeirrt, doch tief in ihm kratzte und nagte die Frage: Was war das, was tat er hier, und — vielleicht am beunruhigendsten — was würde er eines Tages noch tun?
Erst später an diesem Tag würde er seine Kraft wirklich erkennen — nicht durch kontrolliertes Üben, nicht durch vorsichtige Entdeckung, sondern in einem Moment, in dem keine Zeit war zu wählen, in einem Moment, in dem Handeln die einzige Antwort war, als sich die Welt ihm plötzlich wie eine Prüfung eröffnete, die nicht prüfte, was er tun konnte, sondern wer er wirklich war.
In einer schmalen Gasse, fast verborgen zwischen hoch aufragenden Gebäuden, wo das Licht den feuchten Beton kaum erreichte, wo die Mauern feuchte Tränen weinten und die Luft schwer hing, sah er sie — drei Gesichter, die nicht nach ihm gesucht hatten, die jedoch jemand anderen gefunden hatten, einen Jungen, nicht viel älter als Articmace selbst zu sein schien, gedrängt gegen eine Backsteinmauer, gefangen zwischen ihrer drohenden Präsenz und seinem eigenen Atem.
Es bedurfte keiner Worte, keiner Erklärungen, keiner Verzögerung, um zu verstehen, was hier geschah — das war Macht in ihrer hässlichsten Form, die Macht jener, die glaubten, zu herrschen, die daran gewöhnt waren, ihren Willen aufzuzwingen, die vielleicht nie erfahren hatten, was es bedeutete, auf Widerstand zu stoßen.
Articmace spürte, wie sich etwas in ihm regte, etwas, das die Luft um ihn herum verdichtete, die Welt verlangsamte, die Gerüche von nassem Stein und Asphalt schwerer machte, nun durchzogen von einer Schärfe, die er nur von gefrorenen Morgen kannte.
Er wusste nicht, warum er vortrat, warum er sich dazwischenstellte, warum er diesen Raum überquerte — er kannte den Jungen nicht, hatte keinen Grund, einzugreifen, hätte einfach vorbeigehen können, hätte seinen Rhythmus, sein Tempo, seinen Abstand bewahren können.
Doch etwas bewegte ihn.
Eine uralte Stimme.
Vielleicht war es die Stimme des Eises, vielleicht der Wille der Kälte, vielleicht war es einfach ein Teil von ihm selbst, den er noch nicht kannte.
Seine Schritte hallten laut, hallten durch die enge Gasse, jeder Schritt wie ein ferner Trommelschlag, eine schwere Erinnerung daran, dass er eine Entscheidung getroffen hatte — sich nicht abzuwenden.
Die drei drehten sich um, ihre Blicke scharf, doch flach, ihre Augen hart, doch ohne Tiefe, denn sie kannten ihn nicht, verstanden nicht, wer nun vor ihnen stand.
Sie sprachen, sie verspotteten ihn, sie lachten.
Doch er antwortete nicht.
Er spürte nur, wie die Luft um ihn herum dichter wurde, wie sein Atem schwerer in seiner Brust zog, wie die Ränder seines Blickfeldes gefroren, wie seine Finger zu kribbeln begannen, wie der Boden unter seinen Füßen nicht mehr weich und nass war, sondern glatt — glänzend — versiegelt unter einer dünnen Eisschicht, die sich nun mühelos von seinen Schuhen ausbreitete, sich die Mauern emporschlängelte, die schärfsten Steine glättete, die kleinsten Risse mit einer funkelnden Schicht Reif überzog.
Er hob seine Hand — nicht zum Angriff, nicht als Drohung, sondern einfach, als Reflex, als Bewegung, die aus seinem Inneren hervorkam, in dem Moment, in dem sie gerufen wurde.
Und die Kälte — die Kälte antwortete.
Die Luft klammerte sich an ihre Haut, ihr Atem stockte, ihre Füße rutschten auf dem sich schnell verdickenden Eis aus, das sich nun in Wellen von dem Punkt, an dem er stand, vorwärts wälzte, sich die Mauern emporschob, die scharfen Kanten glättete, den Boden in ein schimmerndes Weiß hüllte.
Die Kälte umschloss sie — nicht schneidend, nicht schmerzhaft, sondern langsam, unausweichlich, wie eine Erinnerung an etwas, das viel älter war als sie, etwas, das außerhalb ihrer Kontrolle lag, etwas, das sie ergriff, ohne dass seine Hand sie jemals berühren musste.
Er stand da und sah zu.
Er spürte sein Herz schlagen, nicht vor Angst, sondern aus dem plötzlichen Verständnis heraus, dass dies kein Unfall war, dass dies kein unkontrollierter Ausbruch war.
Das — das war es, was in ihm lebte.
Das war es, was ihn gewählt hatte.
Oder vielleicht war es das, was er schon immer gewesen war.
Sie stolperten zurück, sie flohen, ließen den Jungen zurück, der noch immer gegen die kalte Mauer gedrückt war, die Augen weit aufgerissen, der Atem flach, der Blick fixiert auf das dünne Eis, das sich weiterhin unter seinen Füßen ausbreitete.
Articmace senkte seine Hand.
Die Kälte zog sich langsam zurück, als ob auch sie verstand, dass ihre Aufgabe erfüllt war.
Die Luft entspannte sich, die Mauern begannen zu tropfen, die Stadt kehrte zu ihrem gewohnten Rhythmus zurück.
Er sagte nichts.
Er ging weiter.
Nicht schneller, nicht langsamer.
Sein Schatten zog sich lang über die schmelzenden Eisspuren hinter ihm.
Und hinter ihm?
Hinter ihm blieben Augen, die ihn gesehen hatten — Augen, die ihm folgen würden, Augen, die flüstern würden von dem, was sie erlebt hatten, von der Kälte, die sie überrascht hatte, von dem Namen, den sie noch nicht kannten, der sich jedoch bald wie eine neue Geschichte, wie eine neue Kraft, wie eine unübersehbare Präsenz durch die Stadt verbreiten würde.
Articmace hatte seine erste Kälte gespürt.
Er hatte seine Kraft gesehen.
Er hatte zum ersten Mal verstanden, dass er nicht allein ging — dass die Kälte mit ihm ging, sich an ihn klammerte, sich durch ihn in die Welt ausbreitete.
Und irgendwo, tief in seinem Inneren, wusste er:
Das ist erst der Anfang.